Nachdem ich in der neuesten Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes gelesen hatte, dass an die 14% der Strafgefangenen 2019 keinen festen Wohnsitz hatten, als sie inhaftiert wurden, habe ich recherchiert, ob es Forschungen dazu gibt. Erschreckend wenig, aber es gibt sie. In der 2006 vorgelegten Doktorarbeit „Kriminalität, Kriminalisierung und Wohnungslosigkeit“ von Marion Müller stehen am Ende Ergebnisse:
Ihre Studie veranlasst sie zu einer deutlichen Kritik an Polizei und Justiz, die Obdachlose wiederholt wegen Bagatelldelikten ins Gefängnis schicken: „Würden sich die Verantwortlichen hinsichtlich der Sanktionierung von straffällig gewordenen Wohnungslosen etwas mehr mit der Lebenswelt Wohnungslosigkeit beschäftigen, käme es zu weniger absurden Urteilen gerade hinsichtlich Bagatelldelikten im Wiederholungsfall. Die zum Teil völlig verfehlten, unverhältnismäßig harten und vor allem sinnlosen strafrechtlichen Konsequenzen könnten in vielen Fällen umgewandelt werden in adäquate, sinnvollere Alternativsanktionen.“
Aber nicht nur Polizisten und Richter müssen sich ändern, die Gesellschaft muss sich ändern: „Ein einseitiger, stigmatisierender Blickwinkel à la Wohnungslose trinken, betteln und klauen, ist nicht haltbar. Genauso wenig sollte man sich allerdings dazu verleiten lassen, ausschließlich einen mitleidigen Blickwinkel anzusetzen. Beide Sichtweisen versperren die Sicht auf woh-nungslose Menschen als die individuellen Personen, die sie sind: weder Täter noch Opfer ihrer Situation, aber umrahmt von extremen Bedingungen, die ihren Handlungsentwürfen und -möglichkeiten entgegenstehen können.“
Die heutigen Presseberichte der Kölner Tageszeitungen legen den Schwerpunkt nicht auf die extremen Bedingungen, die die Handlungsmöglichkeiten der Obdachlosen einschränken und für die Stadt und Staat verantwortlich sind. Angesichts des unaufgeklärten Tötungsdelikts am Chlodwigplatz weiß der Stadt-Anzeiger: „Zunehmende Gewalt in Obdachlosenscene“ ohne dafür Beweise vorzulegen. Die wenigen Studien die es gibt, gehen davon aus, dass die Hälfte der Gewaltdelikte gegen Obdachlosen von anderen Obdachlosen ausgingen und die andere Hälfte von Nicht-Wohnungslosen. Wobei klar ist, dass die Umgangsformen unter Obdachlosen von den extremen Bedingungen geprägt sind, die sie umgeben.
Warum rücken die Journalisten nicht den Verantwortlichen in der Sozialverwaltung auf die Pelle und ermitteln, warum den Obdachlosen nicht wenigstens für die Dauer der Pandemie leerstehende Hotels geöffnet werden?
Warum fragen sie SKM nicht, wieso sie die Türen in der Notschlafstelle in Merheim ausgehängt haben?
Die Kollegen vom Düsseldorfer Straßenmagazin fiftyfifty müssen keine Wissenschaftler bemühen um zum Wesentlichen zu kommen: „Alle uns bekannten Personen möchten selbst gerne ihre Schlafstellen aufgeben und in regulären Wohnraum einziehen. Dabei steht der Wunsch nach einem abschließbaren Zimmer, in dem sie zur Ruhe kommen, an oberster Stelle. Notschlafstellen und Unterkünfte mit harten Regeln und vielen anderen Übernachtern sind daher meist keine Option.“
Die Kundgebung unserer Mahnwache gegen Wohnungsnot und Stadtzerstörung beginnt am Donnerstag um 13.30 h. Die Polizei hat die Zahl der Teilnehmenden auf dem Alter Markt auf 100 begrenzt. Wir wären gerne um 15 h vom Alter Markt zum Chlodwigplatz gegangen um dort den vielen Toten Obdachlosen zu gedenken. Das wurde wegen der Pandemie nicht erlaubt.
8.Dezember 2020
Klaus Jünschke