Wohnungslosigkeit ist eine Menschenrechtsverletzung

Gestern hat Uli Kreikebaum im Kölner Stadt-Anzeiger die GISS-Studie zu den Lebenslagen von obdachlosen und wohnungslosen Menschen in Köln gewürdigt. https://www.ksta.de/koeln/obdachlosigkeit-in-koeln-haben-viele-frauen-und-kinder-keine-wohnung-849574

Auf der Webseite der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) kann die Studie gelesen werden.
https://www.giss-ev.de/filestorage/publikationen/2024_giss_wohnungslose-in-koeln.pdf

Schon in der Einleitung wird Köln gelobt: „Die viertgrößte Stadt in Deutschland verfügt über ein ausdifferenziertes Hilfesystem für wohnungslose Menschen.“ Das ist auch Uli Kreikebaum aufgefallen: „Trotz der Zunahme des Elends stellen die Verantwortlichen der Erhebung fest, dass das Kölner Hilfesystem zur Verhinderung von Wohnungslosigkeit ‚gut ausgestattet und großstädtisch differenziert‘ sei.“

Auf Seite 28 der Studie steht: „Unter den auf der Straße lebenden Menschen waren 70 Prozent krank.“  61 Prozent der verdeckt Wohnungslosen (bei geringer Fallzahl) und 55 Prozent der Wohnungslosen ohne Unterkunft auf der Straße berichteten von Gewalterfahrungen (S.38) Die Hälfte aus diesen beiden Gruppen hat ausschließlich negative Erfahrungen mit Sicherheitsdiensten und Polizei gemacht. (S.39)

Nina Asseln hat durch ihre Forschung zu den Todesfällen von Wohnungslosen in Hamburg festgestellt, dass deren Lebenserwartung 30 Jahre geringer ist, als der Bundesdurchschnitt, der bei rund 80 Jahren liegt.
https://ediss.sub.uni-hamburg.de/handle/ediss/7826

Die Mahnwache gegen Wohnungsnot auf dem Alter Markt vor dem Kölner Rathaus hatte sich schon am 4. August 2020 mit der Ersatzfreiheitsstrafe befasst und im Tagesprotokoll festgehalten: „Weniger bekannt ist, dass 14%  aller Wohnungslosen bei Haftantritt obdachlos waren.“ ( Klaus Jünschke, Rainer Kippe, Martin Stankowski: RatSchläge gegen Wohnungsnot und Stadtzerstörung in Köln. Köln 2020, S.16).

Angesichts dieser Zahlen ist es sehr befremdlich, dass die GISS-Studie nicht vehement für Sofortmaßnahmen plädiert, die die Obdachlosen von der Straße holen. Stattdessen ist zu lesen:

„Im Hinblick auf die Standards der Unterbringung bestand Einigkeit, dass eine Einzelzimmerunterbringung von Alleinstehenden auch in den Hotels und größeren Gemeinschaftsunterkünften zwar ein anstrebenswertes Ziel darstellt, unter den gegebenen Bedingungen aber nur schwer realisierbar ist. Für viele Obdachlose bleibt die fehlende Privatsphäre und die Furcht vor Konflikten  in der gemeinsamen Unterbringung darum auch ein bedeutsamer Grund, die institutionelle Unterbringung zu meiden.“ (S. 66.)

Auf Seite 67 steht unter den Empfehlungen zu  den Hilfen bei Wohnungslosigkeit nur  „verstärkte Einzelzimmerunterbringung“.

Das ist umso unverständlicher als Sozialausschuss und Rat der Stadt Köln 2021 coronabedingt einstimmig  die Unterbringung aller Obdachlosen in Einzelzimmer beschlossen hatten:

Sozialausschuss am 14.1.2021:

Dringlichkeitsantrag: Zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten für obdachlose Menschen in Köln während der Corona-Pandemie.  AN/0102/2021

Beschluss:
1. Die Verwaltung wird beauftragt, bedarfsgemäß kurzfristig die Anmietung von weiteren Unterbringungsmöglichkeiten mit Tagesangebot (z.B. Jugendherbergen, Hostels, Hotels) , sowie die Nutzung der Unterbringungsreserven für Geflüchtete bzw. die Nutzung vorhandener Kapazitäten in Sozialhäusern (z.B. Geisbergstr.) zwecks Unterbringung von obdachlosen Menschen in Köln, in die Wege zu leiten.
2. Die zusätzlichen Kapazitäten dienen sowohl der weiteren Entzerrung, weg von Mehrbettzimmern, hin zu Einzelzimmern mit 24-Stunden-Verweilmöglichkeit, als auch der Unterbringung weiterer obdachloser Menschen während der Corona-Pandemie.
3. Die Anmietung, Belegung soll zunächst bis Ende März 2021 erfolgen und ist der aktuellen Lage laufend anzupassen und ggf. zu verlängern.
Protokollnotiz auf Anregung der Fraktion Die Linke: Die Verwaltung wird gebeten, die sanitären Anlagen für Obdach- und Wohnungslose im öffentlichen Raum (z.B. Wiener Platz) zu erweitern.

Abstimmungsergebnis: Der Dringlichkeit des Antrags wird einstimmig zugestimmt
https://ratsinformation.stadt-koeln.de/getfile.asp?id=801190&type=do

Rat der Stadt Köln am 4.2.2021:

10.24 Ermöglichung des Tagesaufenthaltes in den Winterhilfeunterkünften inkl. der Essensversorgung und Sicherstellung einer Einzelunterbringung. AN/0175/2021

Beschluss:  Der Rat beauftragt die Verwaltung, kurzfristig die Anmietung von weiteren Unterbringungsmöglichkeiten mit Tagesangebot sowie die Nutzung der Unterbringungsreserven für Geflüchtete bzw. die Nutzung vorhandener Kapazitäten in Sozialhäusern zwecks Unterbringung von obdachlosen Menschen zunächst befristet bis 31.03.2021 bedarfsgemäß in die Wege zu leiten.
Mit der Umsetzung sind Aufwendungen in Höhe von rund 198.000 Euro verbunden, die aus veranschlagten Mitteln in Teilergebnisplan 1005, Leistungen zur Vermeidung von Obdachlosigkeit, in Teilplanzeile 15, Transferaufwendungen finanziert werden. Bei einer Fortführung des Angebotes ist eine erneute Beschlussvorlage einzubringen.

Abstimmungsergebnis: Einstimmig zugestimmt
https://ratsinformation.stadt-koeln.de/getfile.asp?id=810038&type=do

In der Pandemie hat man also gesehen, dass es möglich ist Obdachlose von der Straße in abschließbare Einzelzimmer zu holen. Viele Obdachlose dachten, dass jetzt ihre Probleme gesehen und ernst genommen werden und es in die richtige Richtung der Bekämpfung der Wohnungslosigkeit geht. Warum wurde das befristet? Danach ist doch das Leben auf der Straße immer noch lebensgefährlich.

Warum haben Sozialausschuss und Rat die Unterbringung in Einzelzimmer beschlossen? Wollten sie die Obdachlosen schützen oder die Gesellschaft vor den Obdachlosen?

Dr. Rau berichtete am 5.9.2019 im Sozialausschuss über die Ergebnisse der mit wohnungslosen Menschen geführten Interviews durch die Streetworker/Innen des Benedikt Labre e.V. und der Diakonie Michaelshoven e.V.. Sein Fazit:

„Der durchgehend geäußerte Wunsch der Befragten, eigenständigen Wohnraum zu beziehen, stößt aufgrund der Wohnungsmarktlage in Köln an tatsächliche Grenzen. Die Verwaltung prüft deshalb gemeinsam mit den Trägern der Wohnungslosenhilfe, inwieweit die Zugangshürden ins Hilfesystem abgesenkt und damit verbunden die Akzeptanz der vorhandenen Angebote gestärkt werden kann.“
https://buergerinfo.stadt-koeln.de/getfile.asp?id=733280&type=do

Dr. Rau hat folglich die GISS nicht beauftragt, zu ermitteln, was die Obdachlosen wollen und was ihnen gut tut. Die GISS hat ausgeführt, wofür sie bezahlt wurde. Obwohl die Wissenschaftlerinnen wissen, dass mit Housing First ein Paradigmenwechel in der Wohnungslosenhilfe entwickelt wurde, lassen sie das traditionelle Hilfesystem hochleben und Housing First zu einem Anhängsel machen.

Auf dem erstes Kölner Fachkolloquium der Stadt Köln vom 22. März 2022 zur  Bekämpfung von Wohnungslosigkeit war die Sozialanthropologin Dr. Luisa Schneider vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung eingeladen. Ihre Aussagen waren nicht misszuverstehen:

„Wenn wir die Lösungen auf Modellprojekte beschränken, tragen wir  zu dem Flickenteppich bei, der Wohnungslosigkeit verwaltet statt sie zu beheben. Um wohnungslose Menschen zu stützen und Wohnungslosigkeit nicht nur zu verwalten,  müssen wir die klaffende Lücke zwischen dem Dach über dem Kopf und dem Zuhause schließen.“
https://www.stadt-koeln.de/artikel/71903/index.html#ziel_0_26

Zum Recht auf Privatsphäre und Intimität hat sich Luisa Schneider im Bayrischen TV ausführlicher geäußert:
„Diese Rechte setzen voraus, dass privater und öffentlicher Raum durch die Wände eines Zuhauses getrennt sind. Eine Wohnung wird somit zur Bedingung der Erfüllung fundamentaler Bedürfnisse wie Liebesbeziehungen, Familie oder Elternschaft.
Zuhause ist, wo man sich zuhause fühlt, und dieses sich zuhause fühlen ist mit Privatsphäre und Intimität. mit einem Rückzugsort und einem Gefühl der Zugehörigkeit verbunden, alles Dinge, die wohnungslose Menschen so nicht mehr wahrnehmen können und die auch der lange Weg durch das Hilfesystem unmöglich macht. Solange das Hilfesystem auf Individualisierung und Separierung baut, solange sie erwarten, dass Betroffene all ihre Probleme lösen, bevor sie ihnen eine Chance geben, während wir sie von der einen unbeständigen Situation in die nächste schieben, solange wird das Hilfssystem genau jene Mechanismen verstärken, die zur Wohnungslosigkeit führen und notgedrungen scheitern. Wenn wir wohnungslosen Menschen suggerieren, dass sie enttäuschen und belasten und sie keinen Platz in unserer Gesellschaft haben, während sie sich auf den Stufen des Hilfesystems abmühen, dann werden sie den Aufstieg irgendwann nicht mehr versuchen. Das können wir nicht wollen, weil Wohnungslosigkeit eine Menschenrechtsverletzung darstellt. https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/campus/obdachlose-leben-ohne-privatsphaere-100.html

Im Interview von Christiane Bacher hat Kai Hauprich klar gestellt: „Wir schauen den Obdachlosen seit Jahren beim Sterben zu.
https://bodoev.de/2023/02/01/wir-schauen-den-menschen-seit-jahren-beim-sterben-zu/

29. August 2024

Klaus Jünschke