„Governing through Crime“?

In meinem mit Christoph Meertens verfassten Buch „Risikofaktor Innere Sicherheit. Argumente gegen den Law-and-Order-Staat“ schrieb ich 1994 am Anfang des Kapitels über Mafia, Organisierte Kriminalität und Drogenkartelle: „Hiobsbotschaften in allen Zeitungen und auf allen Kanälen – ‚Deutschland fest im Griff der Organisierten Kriminalität‘, ‚Deutschland fällt unter die Räuber‘ . Keine Übertreibung wird gescheut: ‚Fahnder warnen: Die kriminellen Kartelle werden mit ihrer geballten Wirtschaftskraft den Staat überrennen, die deutsche Gesellschaft nach italienischen Muster unterwandern.‘“

Am 27.01.1997 berichtete DER SPIEGEL in seiner Titelgeschichte, dass viele Polizeipräsidenten für die Abgabe von Heroin an die Süchtigen sind.

„Ein Tabu wird gebrochen
Die Polizei hat das Drogendesaster täglich vor Augen. In ihren Reihen entstand eine Reformbewegung für eine »Notstandslösung“: Süchtige, denen anders nicht zu helfen ist, sollen Heroin vom Staat erhalten. Von Ariane Barth
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8651170.html

2008 hat der Bundestag Heroin als Medikament endlich zugelassen, aber unter solchen Bedingungen, dass z.B. in Köln von geschätzten mehreren Tausend Heroin-Konsumenten gerade mal 70 zur Diamorphin-Substitution zugelassen werden. Tausende Drogentote weiterhin.

DER SPIEGEL vom 19.10.2024 hat auf dem Titel „Es ist schon Krieg, Mother-Fucker“ und als Untertitel „Banden. Wie Verbrecher Deutschland attackieren.“

Der Stoff um den es geht ist jetzt Kokain. Ohne einen Blick auch nur in das eigene Archiv geworfen zu haben, liefern die sieben Spiegel-Autoren eine Land-and-Order-Titelstory, die schlimmstes befürchten lässt: „“So wie der Kampf der Ermittler gegen diese Bande weitergehen wird, so hat der Kampf des Staates gegen die Organisierte Drogenkriminalität gerade erst angefangen. Wird er jetzt ernst genommen?“

Gabriel Garcia Márquez hat 1993 mit 48 anderen lateinamerikanischen Schriftstellern und Künstlern im kolumbianischen Wochenmagazin „Cambio 16“ erklärt, dass die repressive Drogenpolitik eine Gefahr für die Gesellschaft produziert, die schlimmer ist als die Folgen des Drogenkonsums: „Eine perversere Droge als alle anderen macht sich in der Gesellschaft breit: das leichtverdiente Geld. Es schuf die Vorstellung, das Gesetz sei ein Hindernis zum Glück, Lesen und Schreiben  zu lernen lohne sich nicht, das Leben eines Mörders sei mehr wert als das eines Richters. Kurz, ein Grad von Perversion, wie er jedem Krieg zu eigen ist.“

30 Jahre später rührt DER SPIEGEL die Kriegstrommel für den dummen Kleinkrieg zwischen Polizei und Dealern, als gäbe es noch ein einziges Argument für die Fortführung des „War on Drugs“. Die ganze Auseinandersetzung um die Entkriminalisierung des Drogengebrauchs wird ignoriert. Die Ablehnung der Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe hat uns schon vermittelt, dass die Politik in Berlin wissenschaftliche Erkenntnisse nicht wahrzunehmen bereit ist. Statt in der durchaus bürgerlichen Tradition von Franz von Liszt dazu zu stehen, dass eine gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist, führt die immer maßloser werdende soziale Ungleichheit nicht zu einem Innehalten. Krieg nach außen und Krieg im Innern gegen die Armen werden schamlos propagiert.

„Governing through Crime“ nicht mit uns.

20.10. 2024

Klaus Jünschke