Die Gesundheitsbranche in NRW wächst

So beginnt eine kleine dpa-Meldung, die heute im Kölner Stadt-Anzeiger auf S.8 zu lesen ist.
„Mehr als eine Million Menschen arbeiten in Krankenhäusern, Praxen, im Rettungsdienst, Gesundheitsschutz oder Verwaltungen. Seit 2010 ist die Gesundheitswirtschaft laut statistischem Landesamt mit einem Anstieg von 14,4% doppelt so stark gewachsen wie die NRW Gesamtwirtschaft.“

Das war‘s. Nicht reflektiert wird, ob die Behandlung von Krankheiten ein Geschäft sein muss.

Das gerade von Renate Dillmann und Arian Schiffer-Nasserie veröffentlichte Buch “Der soziale Staat“ leistet das: Wir „leben in einer Gesellschaft, die ihre Gesundheit systematisch attackiert: erstens durch die allgemeinen Lebensbedingungen, die diese Art von Wirtschaft mit sich bringt, und zweitens durch den Verschleiß, den Beschäftigte im Arbeitsleben erfahren.“ (S.98)

„Für den Patienten hat die Tatsache, dass Gesundheit in dieser Gesellschaft ein Geschäft ist, insofern vor allem die beunruhigende Konsequenz, dass er seinen Ärzten nicht vertrauen kann – obwohl er das als Laie in den Fragen, mit denen er zu ihnen kommt, gerade muss.“ (S. 105)

„Das Massensterben der Menschen in der Dritten Welt an Krankheiten, die für ein paar Dollar mit Medikamenten westlicher Konzerne heilbar wären, kennzeichnet den eigentümlichen Charakter des ‚medizinischen Fortschritts‘ im Kapitalismus.“ (S. 106)

„Der Standpunkt medizinischer Versorgung passt mit dem des Geschäfts nicht zusammen; die vom nationalen Lohn einbehaltene Summe beschränkt den Markt, auf den sich wachsende Ansprüche richten; umgekehrt verteuert ein vergrößerter Topf für medizinische Leistungen den Lohn. Und es ist klar, welches Interesse in einer kapitalistischen Ökonomie angesichts dieser Gegensätze notwendigerweise am meisten unter die Räder kommt.“ (S.107)

„Lohnarbeit macht krank. Weil sie dem Zweck dient fremden Reichtum zu vermehren, ist sie rücksichtslos gegenüber den Bedürfnissen von Geist und Körper der Arbeitenden, dauert sie allem technischen Fortschritt zum Trotz oft bis zur Erschöpfung und Verblödung, ist sie oft gefährlich und belastend und fast immer vereinseitigend und stressig.

Der Konsum im Kapitalismus macht auch krank.

Und die Umwelt, d.h. Luft, Gewässer, Böden usw. machen zunehmende krank, weil sie als Rohstofflager der Produktion ausgebeutet und als kostengünstiges Endlager für die Rückstände der Profiterwirtschaftung genutzt und damit vergiftet werden.“ (S. 110 f.)
https://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/der-soziale-staat/

19.12.2018
Klaus Jünschke

Arm und reich in Köln

Der Kölner Stadt-Anzeiger hat in der heutigen Ausgabe entdeckt, dass „die Bekämpfung von sozialer Ungerechtigkeit überhaupt kein kommunalpolitisches Thema“ ist. Dem folgt aber keine harte Kritik an den Parteien im Rat und der Verwaltung, denn „die Entscheidungen darüber, wer wieviel Geld in den Taschen hat, fallen nicht im Rathaus, sondern vor allem auf Bundesebene.“

Die Zeitung, die einer der reichsten Familien Kölns gehört, gibt eine Überblick über die auch in Köln weiter aufgehende Schere zwischen arm und reich:

An der Spitze der Einkommenspyramide lokalisieren sie 53.000 Personen, das sind 6 % der Geld verdienenden Einwohner Kölns.  Darunter wird die 30 % der Bevölkerung umfassende obere Mittelschicht ausgemacht mit 260.000 Personen, gefolgt von der 41% starken unteren Mittelschicht mit 353.00 Personen.  Ganz unten finden mit 202.000 Personen 23% der Kölnerinnen und Kölner. Sie werden nicht als Unterschicht in der Logik der oberen Klassifizierungen ausgewiesen sondern so: „Armut (Gefährdung)“. Damit sind in der Tradition der Armutsforschung Frauen und Männer gemeint, deren monatliches Einkommen „weniger als 60% des Einkommensmedians von 1780 Euro“ ausmacht.

Helmut Frangenberg macht in seinem Beitrag Vorschläge zur besseren Verwaltung der Armut. So plädiert er für den Ausbau der „Sozialraumkoordination“. Kein Mensch in den elf bestehenden „Sozialraumgebieten“ spricht von seinem Veedel oder Stadtteil von „Sozialraum“. Der Begriff kommt aus der Wirtschaft, wo er für die Räume mit den Duschen und Umkleidekabinen noch immer benutzt wird. Mit der Ökonomisierung der Sozialpolitik und der Agenda 10 wurde er von professionellen Armutsverwaltern in die sozialarbeiterische Gemeinwesenarbeit eingeführt. Er steht für das Elend einer entpolitisierten Sozialarbeit, in der Helfer und  Klientel unterschiedliche Sprachen sprechen, die Profis aber behaupten, sie stünden „für Kommunikation in Augenhöhe.“

Wenn es in Köln keine wirkliche Armut, sondern nur „Armut (Gefährdung)“ gibt, warum überleben dann Menschen mit ihrem Hartz-IV-Bezügen nur dank der Tafeln und der Kleiderkammern?

Seit Karl Marx könnte es zur Allgemeinbildung gehören, dass der kapitalistische Reichtum auf der Armut jener beruht, die ihn als Lohnabhängige herstellen, vermehren und verwalten. Arm sind sie, weil sie ausgeschlossen sind von den Produktionsmitteln. Das begründet überhaupt ihre Lohnabhängigkeit. In diesem Sinn sind sie objektiv absolut arm.

Stadtanzeiger und viele Armutsforscher verharmlosen die gegensätzlichen Einkommensquellen von Kapital und Lohnarbeit zu vermeintlich gleichartigen „Einkommensbeziehern“. Damit hat auch die Stadt keinen Klassencharakter und die Bekämpfung der sozialen Ungerechtigkeit kann nach Berlin ausgebürgert werden. Damit bei uns in Kölle alles bunt bleiben kann.
https://www.ksta.de/koeln/soziale-gerechtigkeit-in-koeln-die-schere-zwischen-arm-und-reich-wird-groesser-31798494

28.12.2018
Klaus Jünschke

Chancengleichheit

Auf der „wir helfen“-Seite des Kölner Stadt-Anzeigers vom 1.12.2018 spricht die Soziologin Jutta Almendinger über verlorene Chancen und verschenkte Potenziale: „Darüber, dass Kinder in Verhältnisse hineingeboren werden, und sich der Staat zu sehr zurückhält, um annähernd gleiche Ausgangssituationen, also Chancengleichheit zu schaffen.“
https://www.ksta.de/region/wir-helfen/chancengleichheit–auch-die-armut-an-anregung-kann-kindern-schaden–31673072

Im vergangenen Jahr haben in Köln 451 Schülerinnen und Schüler ihre Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen, das waren fast 5%. Die Folgen für den beruflichen Werdegang, für die gesellschaftliche Teilhabe, für die Gesundheit und selbst für die Lebenserwartung sind bekannt.
https://www.ksta.de/koeln/koeln-archiv/-erschreckend-hohes-niveau–451-schueler-in-koeln-verlassen-die-schule-ohne-abschluss-30609862

Jutta Almendinger schätzt, dass 15 Prozent aller Kinder bildungsarm sind und dass dieser Anteil zu reduzieren ist. „Es ist eine Katastrophe, dass wir das nicht tun. Dabei wissen wir, wie viel gezielte Zuwendung durch Pädagoginnen und Pädagogen bewirken kann. Unsere Bildungsarmut ist ein Staatsversagen.“

Ihre Vorschläge richten sich nicht darauf, wie dieser Versagerstaat erneuert werden könnte. Sie trägt altbekannte Forderungen vor:

Arme Kinder, Flüchtlinge und Migranten schon vorschulisch fördern. Die Kinder nicht nach der vierten sondern erst nach der sechsten Klasse trennen. Durchmischte Klassen erhalten – in ihnen bleiben die guten Schüler*innen gut und die weniger guten werden besser.

Ganz aus dem Blick verloren hat sie den gesellschaftlichen Verhältnisse nicht, in denen Schule und Erziehung stattfinden: „Gerade in Köln ist in den vergangenen Jahren die soziale Segregation stark angestiegen. Und der Anteil der Kinder, die in benachteiligten Quartieren wohnen, ist relativ hoch in der Stadt. Von Chancengleichheit kann unter diesen Umständen keine Rede sein. Wir brauchen eine Stadtentwicklungsplanung, die das soziale Miteinander an die erste Stelle setzt.“

Wie es um das „soziale Miteinander“ steht, wurde gerade in einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zur Einkommensverteilung in Deutschland bekannt: Die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. http://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=diw_01.c.584719.de

Ina Henrichs, die das Interview führt, will trotzdem ernsthaft wissen, ob wir wirklich fähig sind, Chancengleichheit herzustellen, die die Auswirkungen der Geburt und der sozialen Ungleichheiten neutralisiert: „Es gibt nun vorherrschende Ungleichheiten allein durch die Einkommens- und Vermögensverteilung, die sich durch Bildungspolitik auch nicht abbauen lassen.“

Frau Almendinger ist seit 2007 Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), des größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts Europas. Ihre Antwort: „Ja, aber wir können doch daraus etwas Positives ziehen! Das hohe Vermögen könnte für den Bildungsbereich genutzt werden. Wir müssten die Steuerpolitik stärker darauf ausrichten. Wieso nicht verpflichtend Bildungspatenschaften einführen, deren Anzahl man bei der Steuererklärung angeben kann? Es gibt so viele Menschen, denen ein solcher Beitrag nicht wehtun würde.“

Ja, wieso nicht? Was meint Finanzminister Olaf Scholz?

Attac beklagt in der Presserklärung am 3.12.2018 das Aus für die Finanztransaktionssteuer als ein weiterer Beweis dafür, dass die politische Macht des Finanzsektors ungebrochen ist. „Letztlich haben sich nicht die Interessen der Mehrheit der Menschen durchgesetzt, sondern jene Regierungen, denen die Profite des Finanzsektors wichtiger sind als seine Stabilisierung und Beteiligung an den Krisenkosten“, sagt Detlev von Larcher von Attac Deutschland. „Anders als sein Vorgänger hat Bundefinanzminister Olaf Scholz dabei von vornherein jegliches Engagement für eine Finanztransaktionssteuer missen lassen.“

Seit über 100 Jahre wird Franz von Liszt zitiert: „Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik.“ Er hat nur einen Schluss aus der Tatsache gezogen, dass die Armen in den Gefängnisse nahezu unter sich sind. Daran hat sich bis heute nichts geändert. In den Jugendgefängnissen haben über zwei Drittel der Gefangenen keinen Schulabschluss. Es ist prima, dass einigen von ihnen die Gelegenheit gegeben wird, Schulabschlüsse in Haft nachzuholen. Über den 2.Bildungsweg gelingt das auch einigen Jugendlichen, die die Schule Jahr für Jahr ohne Abschluss verlassen.

Die Hilfsaktion des Kölner Stadt-Anzeiger sammelt das Jahr über um die 1.5 Millionen Euro, die an Initiativen verteilt werden, die benachteiligte Kinder und Jugendlichen fördern.

Warum sind es keine 15 Millionen oder 150 Millionen? Um mit Frau Almendinger zu sprechen: „Das hohe Vermögen vieler Kölnerinnen und Kölner könnte für den Bildungsbereich genutzt werden.“

Aber warum ist überhaupt „wir helfen“ in einer der reichsten Städte der Welt nötig? Warum wird die Tafel gebraucht?

Warum erklärt die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), des größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts Europas, nicht, dass der Kampf für die Chancengleichheit Hand in Hand gehen muss mit dem Kampf für die Reduzierung der sozialen Ungleichheiten, der Ungleichheiten der Positionen und der Ressourcen. Braucht es weitere Forschungen, die zeigen, dass es weder der Schule noch dem Arbeitsmarkt gelingt, die Wirkungen der sozialen Ungleichheiten unwirksam zu machen?

Kein Zufall, dass in einer Gesellschaft, die sich weigert, ihren Klassencharakter wahrzunehmen und die Eigentumsfrage zu stellen, Bildung zum zentralen Mittel für die Lösung gesellschaftlicher Probleme gemacht wird. „Dass die soziale Herkunft die Bildungschancen entscheidend beeinflusst, wird zwar gesehen. Dem kann man aber durch Veränderungen im Bildungssystem begegnen, so der Glaube der Verantwortlichen. Was ungeachtet möglicher Fortschritte aber ignoriert wird, ist die Tatsache, dass eine zentrale Voraussetzung der Angleichung von Bildungschancen in der Angleichung der materiellen Lebensbedingungen besteht. Armut führt auch beim besten Bildungssystem zu schlechteren Abschlüssen.“ (Michael Hartmann)
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/und-schuld-bist-du?

4.12.2018
Klaus Jünschke

PS.
Morgen werden die Ergebnisse einer Forsa-Umfrage vorgestellt, die der Stifterverband, die SOS-Kinderdörfer weltweit und die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung in Auftrag gegeben haben. Rund die Hälfte (47 Prozent) der befragten 14- bis 21-Jährigen glauben nicht daran, dass alle Kinder unabhängig von ihrer sozialen und kulturellen Herkunft die gleichen Chancen auf eine gute Bildung haben.
http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/chancengleichheit-jugendliche-zweifeln-an-bildungsgerechtigkeit-a-1241668.html

Antisemitismusforscher sind ein Problem

Die Vergangenheit ist nicht vergangen

Antisemitismusforscher haben wieder mal gefragt, ob Juden zu viel Einfluss in der Gesellschaft haben: „Mehr als ein Viertel der befragten Europäer sei der Meinung, Juden hätten zu viel Einfluss auf die Geschäfts- und Finanzwelt, teilte CNN mit.“
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/antisemitismus-viele-junge-deutsche-wissen-nichts-oder-wenig-ueber-holocaust-a-1240814.html

Warum wird nicht gefragt, ob die Adligen, die Großgrundbesitzer, die Banken und Konzerne, die Hitler und die NSDAP vor 1933 unterstützt haben – und ihre Erben – zu viel Einfluss haben?

Gerade aktuell: August von Finck senior hat Hitler vor 33 unterstützt und bis 1945 von Arisierungen profitiert. Sein Sohn August von Fink junior fördert die AfD.
https://de.wikipedia.org/wiki/August_von_Finck_senior

Warum ignoriert die Antisemitismusforschung, dass es in Deutschland mit seiner Erinnerungskultur keine Aufarbeitung der Vergangenheit gegeben hat?

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeichnet am 4. Dezember in Schloss Bellevue 14 Frauen und 14 Männer mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland aus. Unter dem Motto „Zukunft braucht Erinnerung“ würdigt er anlässlich des Tages des Ehrenamtes ihr herausragendes Engagement für die Gedenk- und Erinnerungskultur in Deutschland.
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Frank-Walter-Steinmeier/2018/12/181204-Verdienstorden-Ehrenamt.html

Werden die Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien davor oder danach wieder aufgenommen?

28.11.2018
Klaus Jünschke

Integration und Vielfalt in Köln

Am 12. Juni 2018 hat Sabine Wotzlaw vom Amt für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Köln mitgeteilt, dass Oberbürgermeisterin Henriette Reker noch in diesem Jahr ein Amt für Integration und Vielfalt einrichten will.
https://www.stadt-koeln.de/politik-und-verwaltung/presse/neues-amt-fuer-integration-und-vielfalt

Vergangene Woche hat Frau Reker das neue Amt vorgestellt. Es wird im Dezernat der Oberbürgermeisterin angesiedelt und soll im Dezember seine Arbeit aufnehmen. Die Dienststellen zu den Themen Einwanderung, Integration, Vielfalt und Inklusion sind dann unter einem Dach gebündelt. Die Leitung der 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter übernimmt der bisherige Flüchtlingskoordinator Hans-Jürgen Oster.
https://www.rundschau-online.de/region/koeln/80-mitarbeiter-stadt-koeln-stellte-neues-amt-fuer-integration-und-vielfalt-vor-31601690

Ein langer Weg wurde zurückgelegt. Von dem mit zwei Stellen ausgestatteten Ausländerreferat unter Friedemann Schleicher im Sozialamt, über das personell aufgestockte interkulturelle Referat hin zum kommunalen Integrationszentrum sollen mit dem neuen Amt die Anliegen und Probleme der in Köln lebenden Menschen mit Migrationshintergrund endlich „Chefsache“ werden. Initiiert durch die jahrelange Lobbyarbeit des Runden Tisches für Integration hat der Rat der Stadt Köln schon am 14.12.2006 die Verwaltung beauftragt, ein Gesamtkonzept für die Integration von Migrantinnen und Migranten zu erstellen.

Was lange währt, wird nicht zwangsläufig gut. Wie in der Presseerklärung vom Juni und im Artikel der Kölnischen Rundschau vom 16.11.2018 über die Vorstellung des neuen Amtes das Thema Integration präsentiert wird, ist erschreckend selbstgerecht und ignorant.

Wenn es um die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus geht, lässt Köln die Welt wissen, dass die Stadt mit dem NS-Dokumentationszentrum die größte lokale Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland hat.

Wenn es um Köln und die Zuwanderer geht, hat das „Dritte Reich“ regelmäßig nicht stattgefunden: „Köln ist seit Jahrhunderten eine Einwanderungsstadt für Menschen aus vielen Ländern, die aus persönlichen, politischen, religiösen, aber auch wirtschaftlichen Gründen in die Kommune am Rhein kommen. Köln ist als bunte und tolerante Stadt in Deutschland bekannt.“ (Presseerklärung vom 12.Juni 2018) Diese Sorte Selbstdarstellung von Politik und Verwaltung wird von vielen Kulturschaffenden und Teilen der Bevölkerung mitgetragen. So hieß es vor drei Jahren in der Kölner Botschaft: „Aber an dem kulturellen und materiellen Reichtum, den uns die Zuwanderung seit mehr als 2000 Jahren in Köln beschert, erkennen wir auch, dass Integration ein lohnendes und ein realistisches Ziel ist.“ https://mobil.koeln.de/koeln/koelner-botschaft-gegen-gewalt_980882.html?page=0%2C1

Hin und wieder steht sogar im Boulevard wohin der „kulturelle und materielle Reichtum, den uns die Zuwanderung seit mehr als 2000 Jahren in Köln beschert“ gegangen ist. In einem Artikel des Kölner Express über die zunehmende Armut in NRW war am 19.02.2015 zu lesen: „Auffällig ist, dass in Köln sowohl die Armutsquote als auch die Zahl der Millionäre über dem Durchschnitt liegen.“

Frau Reker, die damals noch Sozialdezernentin der Stadt Köln war, hatte andere Prioritäten. Über den Neujahrsempfang der deutschen Bank berichtet die Kölnische Rundschau am 14.1.2016: „Die mit Beifall begrüßte Oberbürgermeisterin Henriette Reker forderte mehr Personal für Polizei und Justiz. Zudem lud sie die Anwesenden ein, mit ihr den Wirtschaftsstandort Köln zu stärken, denn dies sei die „eindrucksvollste Sozialpolitik, die es gibt“. In den nächsten Jahren dürfe es keine Erhöhung der Gewerbesteuer geben. Sie wolle Köln bei Medien, Uni und Messe auf Platz eins in Deutschland führen.“

Über Kritik an diesem Verständnis von Sozialpolitik ist in Köln nichts bekannt geworden. Die Wohlfahrtsverbände und die sozialen Initiativen, die mit den Lebenswelten der 250.000 Armen in Köln vertraut sind, halten nicht nur still. Allen Ernstes war im Stadt-Anzeiger zu lesen: „Fakten statt Vorurteile will der neue Caritas-Leitfaden „Arm in Köln“ liefern. Die Broschüre soll zu mehr Sicherheit im Umgang mit Betteln und Armut führen und Verständnis dafür wecken, dass Bettler und Obdachlose zur urbanen Gesellschaft einer Großstadt wie Köln dazugehören“. (KStA 17.10.2017)
https://www.ksta.de/koeln/koeln-archiv/armut-in-koeln-hilft-es–bettlern-auf-der-strasse-geld-zu-geben–28603894

Für die Abschaffung der Armut ist Köln nicht zuständig. Die Kämmerin Frau Klug in einem Interview mit Sarah Brasack und Helmut Frangenberg vom Stadt-Anzeiger: „Wir müssen vom Bund, der für die Sicherung gleicher Lebensgrundlagen zuständig ist, erwarten, dass er sich mehr und schneller einbringt.“ Auf die Frage „Was geschieht, wenn das nicht passiert?“ antwortet Frau Klug: „Davon gehe ich nicht aus.“

Davon gehen aber viele aus: „Eine Überwindung von Not, Armut und Unsicherheit oder gar eine »Angleichung der Lebensverhältnisse« erwartet sich – zu Recht – niemand mehr vom sozialen Staat, der in den letzten 15 Jahren große Teile seiner lohnabhängigen Bevölkerung im Interesse seiner Wirtschaft und seiner globalen Macht verarmt und verunsichert hat.“
https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/www.vsa-verlag.de-Dillmann-Schiffer-Nasserie-Der-soziale-Staat.pdf

Immerhin sind kritisches Denken und die Bereitschaft zum Engagement für die Veränderung der Verhältnisse, die Armut produzieren,  nicht gänzlich in Köln verschwunden. Claus-Ulrich Prölß, der Geschäftsführer des Kölner Flüchtlingsrats in der November-Ausgabe der Flüchtlingspolitischen Nachrichten: „Wir können nicht erwarten, dass sich ausgegrenzte, verarmte und verängstigte Bevölkerungsgruppen „solidarisch“ gegenüber Flüchtlingen zeigen, wenn wir das Thema soziale Gerechtigkeit und die Forderung nach Gleichheit ignorieren.“
https://koelner-fluechtlingsrat.de/userfiles/pdfs/2018-11FluePolNa.pdf

Damit könnte auch in Köln angefangen werden zu fragen „Wieso gibt es »soziale Ungleichheit«, die »ausgeglichen« werden muss, wieso fehlt es an Möglichkeiten zur »Teilhabe« und was gefährdet eigentlich so systematisch den allseits beschworenen sozialen Zusammenhalt?“
https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/www.vsa-verlag.de-Dillmann-Schiffer-Nasserie-Der-soziale-Staat.pdf

Hans-Jürgen Oster betonte bei der gestrigen Vorstellung, dass es das Ziel des neuen Amtes sei, „Teilnahme und Chancen aller Menschen in Köln zu verbessern“.

Eine Voraussetzung wäre, dass in Köln endlich eine Verständigung über Integration stattfindet.

Im Gespräch von Siegfried Jäger mit Manuela Bodjadzijev und Serhat Karakayali vom Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung wurde überlegt, ob der Begriff Integration überhaupt solidarisch-egalitär besetzt werden kann.

Manuela Bojadzijev & Serhat Karakayali: „Der Begriff und das Konzept der Integration sind schon lange – zumindest in der Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland – ordnungspolitisch ausgerichtet. Er taucht in der Vergangenheit dort auf, wo nach 1973 – dem Jahr, in dem der Anwerbestopp verhängt wurde – von der Entstehung von Ghettos und damit von sozialen Unruheherden und „sozialem Sprengstoff“ geredet wird. Auch diese Rede ist, ebenso wie der sich zu dieser Zeit etablierende Diskurs der Integration, als Reaktion auf die politischen und alltäglichen Organisierungsbemühungen von Migrantinnen und Migranten zu lesen. Vermutlich ließe sich zeigen, dass es hier eine bis in die Anfänge der Sozialpolitik zurückreichende Genealogie gibt, etwa den Umgang mit den berühmten „gefährlichen Klassen“. Integration impliziert unter einer solchen Perspektive eine strukturelle Asymmetrie: Integriert wird in etwas, nämlich die herrschende soziale Ordnung. Zugleich geschieht noch etwas Weiteres: Diese Ordnung wird samt ihrer Bevölkerung als existent und in gewisser Weise auch homogen gedacht und gesetzt. Sexistische Geschlechterverhältnisse, Klassenkämpfe etc. werden (…) negiert.
https://www.diss-duisburg.de/2010/12/soll-der-begriff-%E2%80%9Eintegration-kritisiert-oder-verteidigt-werden/

Das neue Amt trägt den Namen Amt für Integration und Vielfalt. Für die Auseinandersetzung mit „Vielfalt“ kann ich empfehlen:

Patricia Purtschert: Wir sind alle divers. https://www.woz.ch/-48f

Walter Benn Michaels: Wider den multikulturellen Imperativ http://rageo.twoday.net/stories/5542778/

17.11.2018
Klaus Jünschke