Armes Köln

Die Soziologin Jutta Almendinger hatte am 1.12.2018 im Kölner Stadt-Anzeiger die Gelegenheit zur wachsenden sozialen Ungleichheit in Köln und ihren Folgen für die Chancengleichheit in den Schulen zu sprechen: „Gerade in Köln ist in den vergangenen Jahren die soziale Segregation stark angestiegen. Und der Anteil der Kinder, die in benachteiligten Quartieren wohnen, ist relativ hoch in der Stadt. Von Chancengleichheit kann unter diesen Umständen keine Rede sein. Wir brauchen eine Stadtentwicklungsplanung, die das soziale Miteinander an die erste Stelle setzt.“

Am 14.8.2024 war im Stadt-Anzeiger auf Seite 28 zu lesen, dass in NRW zurzeit etwa 6.000 Lehrkräfte fehlen. „Im ersten Halbjahr 2023/2024 habe jede fünfte Unterrichtsstunde nicht wie geplant stattfinden können.“ Der Ausbau der Grundschulbetreuungsform Offene Ganztagsschule (OGS) mit Mittagessen und Hausaufgabenhilfe deckt nicht den Bedarf. Ohne Bezug zu dieser katastrophalen Entwicklung, die dazu führt, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler die Schulen ohne Abschluss verlassen, wird auf Seite 21 von „Mehr Straftaten an Kölner Schulen“ berichtet. „Sehr viele Kinder hätten Probleme, ihre Konflikte vernünftig zu lösen“ ist da zu lesen. Allen Ernstes wird am Ende empfohlen „an allen Kölner Schulen Maßnahmen der Gewaltprävention fest zu verankern“, als seien es die Kinder und Jugendlichen, die für ihre Probleme selbst verantwortlich sind und nicht die Erwachsenengesellschaft und die von ihr zu verantwortende unterlassene Hilfeleistung. 

Die Kinder und Jugendlichen erleben nicht nur nicht die von Jutta Almendinger geforderte Stadtentwicklungsplanung, die das soziale Miteinander an erster Stelle setzt. Sie erleben durch die wiederkehrende Skandalisierung von „Ausländerkriminalität“ und einer hysterischen Flüchtlingsabwehr (Kanzler Scholz: „Wir müssen im großen Stil abschieben“), dass die Anwesenheit der Familien mit Migrationshintergrund in Frage gestellt wird. Damit die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit nicht zum Hauptthema in der Gesellschaft wird, wird wieder mal die Migration zur „Mutter aller Probleme“ gemacht. 

„Aber der Grund, warum die Kommunen am Rand ihrer Möglichkeiten sind, hat wenig mit dem Thema Asyl zu tun. Die Städte und Gemeinden sind seit Jahrzehnten die Verlierer der Finanzordnung der Bundesrepublik. Es wäre höchste Zeit, endlich eine Reform der Kommunalfinanzen anzugehen, die eine tatsächliche Entlastung bedeuten würde.“ (Die Zeit, 2010.2023)

Wodurch die soziale Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten verstärkt wurde, sodass heute 25% der Einwohner arm sind, hat die Kölner Autorin Claudia Pinl 2013 in ihrem Buch „Freiwillig zu Diensten? Über die Ausbeutung von Ehrenamt und Gratisarbeit“ erklärt:

Mit der Aussetzung der Vermögenssteuer im Jahr 1997, aus der die Städte Anteile erhielten und der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer 1998 verloren die deutschen Kommunen verlässliche Einnahmequellen. Dadurch wurde das Sponsoring durch die Privatwirtschaft immer wichtiger. Die Unternehmen gaben werbewirksam zurück, was sie an Steuern eingespart hatten, wenn auch nur in Bruchteilen.

Unter dem Zwischentitel „Rot-Grün pflügt die Gesellschaft um“ schildert sie die Folgen der Agenda 2010: Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse durch Befristung, Leiharbeit, Arbeiten unterhalb der Versicherungspflichtgrenze und Scheinselbstständigkeit.
Im Jahr 2000 wurden die steuerlichen Absetzungsmöglichkeiten für Stiftungen ausgeweitet. Die öffentliche Hand verzichtet auf erhebliche Steuereinnahmen, wird arm und ärmer, damit die Vermögenden nach eigenem Gusto entscheiden können, wie sie ihre Millionen und Milliarden einsetzen – ohne demokratische Kontrolle. Entsprechend boomt das Stiftungswesen.

Am Ende ihres Buchs stellt Claudi Pinl die Frage: „Darf man die Hilfsbereitschaft kritisieren?“ Und gibt die Antwort:„ Ja, man darf. Wenn Staat und Gesellschaft dulden, dass einige wenige sich auf Kosten vieler bereichern, dass öffentliche Infrastruktur und kulturelle Errungenschaften den Bach runtergehen, weil Multimillionäre den Hals nicht voll genug kriegen, wenn die politische Ebene sich von der Verantwortung verabschiedet, das gemeinsam Erwirtschaftete möglichst allen in der Gesellschaft zu gute kommen zu lassen. Dann muss man davor warnen, dass gutgläubige, hilfsbereite Menschen für die Folgen politischer Fehlsteuerung den Ausputzer machen.“

Was tun?  Claudia Pinl: „Sich einsetzen für eine Politik, die den Reichtum in Deutschland umverteilt und die Almosengesellschaft verabschiedet.“
14. August 2024
Klaus Jünschke

Entkriminalisierung von Fahren ohne Fahrschein

Zur Entkriminalisierung von Fahren ohne Ticket

In einem Offenen Brief an Bundesjustizminister Buschmann wird die ersatzlose Abschaffung von § 265a StGB Beförderungserschleichung gefordert.

Hier geht es zu dem von Nicole Bögelein und Luise Klaus initiierten Brief und der Liste der Unterstützerinnen:
https://kriminologie.uni-koeln.de/sites/kriminologie/UzK_2015/bilder/aktuelles/OffenerBrief265a_formatiert_unterschrieben_06.08.2024.pdf

Die neue Richtervereinigung unterstützt die Forderung
https://www.rechtundpolitik.com/politik/rechtspolitik/neue-richtervereinigung-unterstuetzt-die-forderung-der-ersatzlosen-abschaffung-des-%C2%A7-265a-stgb/

Auch NRW-Justizminister Limbach ist für die ersatzlose Abschaffung, Der Deutsche Städtetag und der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen sind dagegen.
https://www.welt.de/regionales/nrw/article252940268/NRW-Minister-Strafbarkeit-von-Schwarzfahren-abschaffen.html

Ziemlich alle Medien haben berichtet, z.B.:

https://www.ksta.de/koeln/offener-brief-an-bundesjustizminister-schwarzfahren-sollte-komplett-straffrei-sein-840849

https://taz.de/Fahren-ohne-Fahrschein/!6025369/

Praktische Konsequenzen gibt es längst

Der Freiheitsfonds hat seit seiner Gründung vor zwei Jahren schon über 1000 Menschen freigekauft, die in Haft waren, weil sie die Geldstrafen wegen fahren ohne Ticket nicht bezahlen konnten.
https://www.freiheitsfonds.de/


Einige Städte, wie Mainz und Wiesbaden zeigen nicht mehr an
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/rhein-main-gebiet-schwarzfahren-nicht-mehr-anzeigen-265a-stgb

Bundesjustizminister Buschmann

In Köln war es der FDP-Ratspolitiker Volker Görzel, der mit seinem Antrag dafür sorgte, dass der Kölner Stadtrat im Dezember 2023 beschloss, dass in der Stadt künftig auf Strafanzeigen wegen Fahren ohne Ticket verzichtet werden soll. Görzel ging es um die Entlastung der Justiz.
https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/schwarzfahren-koeln-100.html

Bundesjustizminister Buschmann hat mit der Reform der Ersatzfreiheitsstrafe gezeigt, dass er mit der Halbierung dieser Strafe auch nur die Justizvollzugsanstalten entlasten wollte  – die Zahl der Armen, die in Zukunft ins Gefängnis kommen, mit all den negativen Folgen, die eine Inhaftierung für sie hat, wird dadurch nicht halbiert.

Die Entkriminalisierung der Armut ist aber ein Anliegen von Nicole Bögelein und Luise Klaus. Sie begründen ihr Engagement für die ersatzlose Abschaffung des § 265a StGB so:

„• geringer Unrechtsgehalt der Tat

• 265a StGB als Beispiel für die Kriminalisierung von Armut

• hohe Anzahl an Menschen, die deshalb in Ersatzfreiheitsstrafen landen – jede vierte

Ersatzfreiheitsstrafe geht auf eine Geldstrafe wegen §265a StGB zurück (insgesamt landen

jährlich rund 7.000 Menschen wegen Fahrens ohne Fahrschein in einem Gefängnis)

• jährliche Kosten, die dem Staat für die Strafverfolgung anfallen: 114 Millionen Euro“

Daniel Loick in seinem neuen Buch „Die Überlegenheit der Unterlegenen“: Die Aufrechterhaltung von Regimen der Ausbeutung, der Unterdrückung, der Marginalisierung und der nekropolitischen Gewalt in planetarischem Maßstab hat massive Effekte auf diejenigen Gruppen, die von diesen Regimen profitieren. Die Effekte nehmen die Form epistemischer Ignoranz an: Mitglieder dominanter Gruppen sind für bestimmte Wahrheiten nicht aufmerksam. Sie betreffen auch die Affektstruktur und das Einfühlungsvermögen: Wer andere beherrscht  oder tatenlos Zeuge dieser Beherrschung wird, muss Formen der Abstumpfung, Indifferenz,  Kälte oder sogar der leidenschaftlichen Verachtung entwickeln, wie sie in gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zum Ausdruck kommen. Schließlich umfassen die Effekte auch die normativen Vorstellungen  und Konzeptionen, die eine dominante Gruppe für richtig hält – ihre Ethik, Moral und Politik wird dazu neigen, der bestehenden Herrschaft Rechtfertigungsnarrative zu liefern.“ (S.147)

10 August 2024

Klaus Jünschke

Einzelzimmer für alle Obdachlosen


Seit vier Jahren fordern wir die sofortige Unterbringung aller Obdachlosen in abschließbare Einzelzimmer. Coronabedingt hatten das selbst der Sozialausschuss und der Rat der Stadt Köln 2021 beschlossen, aber nicht umgesetzt. Seit der Nationale Aktionsplan zur Abschaffung der Wohnungslosigkeit auf Bundesebene Gestalt annimmt und in Köln ein eigenes Kölner Konzept zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit verabschiedet wurde, könnten Bund und Stadt mit der sofortigen Unterbringung der Obdachlosen in abschließbare Einzelzimmer beweisen, wie ernst es ihnen damit ist, bis 2030 ein Land bzw. eine Stadt ohne Wohnungslosigkeit zu werden. Wir haben immer betont, dass diese Sofortmaßnahmen der Unterbringung in abschließbaren Einzelzimmer eine Übergangshilfe wäre, solange es noch nicht Housing-First-Wohnungen für alle gibt.

Von Artikel 1 des Grundgesetzes – Die Würde des Menschen ist unantastbar -, und von Kanzler Scholz verkündetem Versprechen „You will never walk allone“ waren die Obdachlosen bisher ausgenommen.

Die Lebenserwartung der Obdachlosen auf der Straße liegt 30 Jahre unter dem Bundesdurchschnitt. Sie sind gewalttätigen tödlichen Übergriffen ausgeliefert und werden extrem kriminalisiert, unverhältnismäßig hoch ist ihr Anteil in den Gefängnissen. Im Augustheft der Düsseldorfer Straßenzeitung FiftyFifty wird am Beispiel von drei Rumänen und Polen vermittelt, wie die besonders verletzliche Gruppe der osteuropäischen Obdachlosen ohne Leistungsanspruch rassistisch diskriminiert wird.
https://www.fiftyfifty-galerie.de/magazin/aktuell

In Köln werden den osteuropäischen Obdachlosen ohne Leistungsanspruch in der Vorgebirgsstraße Mehrbettzimmer mit ausgehängten Türen als „humanitäre Hilfe“ angeboten.
https://www.wohnungslos-in-koeln.de/einrichtung/humanitaere-hilfe/

Sozialdezernent Rau verweigert ihnen die Unterbringung in abschließbaren Einzelzimmer, weil er befürchtet, dass dann Obdachlose aus anderen Städten nach Köln nachkommen. Damit ist er nicht allein.

Seit 2005 ist die Stadt Köln Mitglied der Europäischen Städtekoalition gegen Rassismus (ECCAR). Im 10-Punkte-Aktionsplan der ECCAR geht es im Punkt 7 um die Chancengleichheit auf dem Wohnungsmarkt: “Entwicklung konkreter Maßnahmen zur Bekämpfung von  Diskriminierung bei Vermittlung und Verkauf von Wohnungen.“
https://www.stadt-koeln.de/artikel/70944/index.html

Dass dieser verbale Antirassismus  nur zum Marketing der Städte in ihrem Konkurrenzkampf gegeneinander dient, sieht man daran, dass sie es bis heute nicht geschafft haben solidarisch die Obdachlosen von der Straße in die leerstehenden Wohnungen und Büroimmobilien unterzubringen. Der Einsatz für die Diversität ist an die Stelle des Kampfes für die Gleichheit getreten ist, statt ihn zu ergänzen.

Das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt berichtet in der Augustausgabe vom Projekt „Wohnschmiede“. Auf dem Gelände der Christuskirche in Eimsbüttel hat die Behrens-Stiftung  sechs Wohncontainer aufstellen dürfen, in denen osteuropäische Obdachlose ohne Leistungsanspruch in eigenen abschließbaren Zimmern wohnen können – als befristete Überbrückungshilfe in die eigene Wohnung. Im Kommentar hat der Redakteur Jonas Fabricius-Füller Bürgermeister  Peter Tschentscher (SPD) kritisiert, der Osteuropäer aufgefordert hat in die Heimat zurückzugehen und vor einem „Pull-Effekt“ gewarnt hat. Wenn die Rückkehr in die verarmte Heimat eine Option wäre, würden die Obdachlosen von allein drauf kommen.  Auch Jonas Fabricius-Füller erklärt: „Ihnen aus dem Elend zu verhelfen wäre nicht nur ein Akt der Mitmenschlichkeit, sondern würde Hamburg auf dem Weg zur Beseitigung der Obdachlosigkeit bis 2030 ein großes Stück weiterbringen.“
https://www.hamburger-wohnstifte.de/service/aktuelles/standard-titel/die-wohnschmiede-neue-perspektiven-fuers-leben

In Köln stehen weit mehr Wohnungen leer, als Obdachlose auf der Straße zu überleben versuchen. Solange die Stadt sich weigert diese Obdachlosen in abschließbare Einzelzimmer unterzubringen, ist es unsere Pflicht diese Häuser zu besetzen. Wir müssen erreichen, dass eine Mehrheit in der Stadt nicht mehr bereit ist den Obdachlosen beim Sterben zuzusehen.

8. August 2024
Klaus Jünschke

Zur Konkurrenz der Städte

Zur Konkurrenz der Städte

In Köln gibt es viel mehr leerstehende Wohnungen und leerstehende Büros als Obdachlose auf der Straße. Die Stadt Köln weigert sich diese Obdachlosen von der Straße in die leerstehenden Wohnungen und Büroimmobilien unterzubringen, weil befürchtet wird, dass damit eine Sogwirkung entsteht und andere nachkommen.

Sozialdezernent Dr. Rau hat am 18.Juni 2024 auf dem Plenum des Kölner Runden Tisches für Integration geschildert, was die Erlaubnis für die Ukraine-Flüchtlinge, ihre Haustiere mitzubringen, für Folgen hatten. Denn das war in anderen Städten verboten. Aus ganz Deutschland kamen so viele Flüchtlinge mit Tieren nach Köln, dass man sich in Köln nicht mehr anders zu helfen wusste, und auch hier keine Tiere mehr erlaubte. Für Dr. Rau ist das ein schlagender Beweis, dass es eine Sogwirkung gibt. Unausgesprochen wird damit bekräftigt, dass die Obdachlosen in Köln nicht von der Straße in abschließbare Einzelzimmer untergebracht werden – damit nicht andere nachkommen. Nicht zu vernehmen war, ob die anderen Städte von Köln aufgefordert wurden, auch Flüchtlinge mit Tieren aufzunehmen.

Das hat Tradition (nicht nur) in Köln. Oberstadtdirektor Rossa erklärte am 9. Juni 1982 in München auf dem Deutschen Städtetag: „Kommen Sie zu uns (…) und sehen Sie sich auch unsere Gemeinschaftsunterkünfte an. Ich gebe zu (…) wir gehen eben genau diese Gratwanderung, um es nicht zu schön zu machen. Sonst spricht es sich nämlich rum, dass es toll ist, in Köln Asylant zu sein.“ (DST-Beiträge zur Sozialpolitik, Heft 14, Köln 1982)

In Bezug auf den Umgang mit  Obdachlosen in Köln sprach Dr.Rau nicht von einer „Gratwanderung“, sondern von einer „Balance von Integration und Repression“. In der Tradition der schlechten Unterbringung der Flüchtlinge steht die menschenunwürdige Unterbringung in den Notunterkünften Vorgebirgsstraße und Ostmerheimer Straße mit Mehrbettzimmern und ausgehängten Türen.

Markus Ottersbach hat sich 2003 in seinem Beitrag „Die Marginalisierung städtischer Quartiere“ auch mit der Konkurrenz der Städte befasst, ohne die die von Dr. Rau thematisierte Sogwirkung nicht zu verstehen ist.  

„In fast allen Großstädten findet man sowohl sehr reiche Quartiere als auch sehr arme Viertel.
Als Gründe für diese Polarisierung innerhalb der Städte werden vor allem die Globalisierung der Arbeitsmärkte, der Wohnungsmangel, die Pflege des Wirtschaftsstandorts und die ethnisch bedingte Segregation erwähnt (15). Mit der zunehmenden Globalisierung ist ein Wegfall einfacher Arbeitsplätze in der Bundesrepublik verbunden. Menschen, die nur eine geringe schulische und berufliche Qualifikation aufweisen, gehören deshalb zu den so genannten Globalisierungsverlierern. Auch der Wohnungsmarkt hat sich zu einer wichtigen Ursache für Armut und soziale Ungleichheit entwickelt. Falsche Bedarfsprognosen, eine Verknappungspolitik, die Bevorteilung der gewerblichen gegenüber der privaten Nutzung von Gebäuden in bestimmten städtischen Lagen und ungünstige Rahmenbedingungen für den Bau von Wohnungen (hohe Zinsen, hohe Baukosten etc.) führt Jens Dangschat als Ursachen für das Dilemma auf dem deutschen Wohnungsmarkt und die damit verbundene Segregation der Quartiere an (16). Einen weiteren Grund für die Entstehung marginalisierter Viertel sieht Dangschat in der steigenden Konkurrenz der Städte um wirtschaftliche Güter bzw. Dienstleistungen. Insbesondere der Wettbewerb um moderne Industrien, Dienstleistungsbetriebe und zahlungskräftige Konsumenten veranlasst die Städte immer mehr dazu, ihre Investitionen an die Erfordernisse der lokalen Wirtschaft anzupassen. Dies verdeutlicht z.B. die Entwicklung der Innenstädte zu Büro- und Freizeitzentren mit horrenden Mieten, die nur noch finanzstarke Anbieter von Dienstleistungen aufbringen können. Wirtschaftsmanager, Bänker und Kommunalpolitiker ziehen dabei in der Regel am selben Strang. Um im internationalen Wettbewerb mithalten zu können, werden deutliche Signale gefordert, was etwa die Höhe der Mieten in erstklassigen Bürolagen angeht, mit denen dann Werbung für den Standort betrieben wird (17).

Fußnote 17: Ein prägnantes Beispiel ist die Werbung um den Wirtschaftsstandort Köln mit dem neuen KölnTurm. So argumentiert der Wirtschaftsdezernent der Stadt Köln, Karl O. Fruhner, dass die Höhe der Miete des KölnTurms ein wichtiges Signal für die Weiterentwicklung bestimmter Standorte ist: „Wir brauchen sie (die hohen Mieten, d. Verf.), um in drei bis vier Jahren im Rechtsrheinischen richtig landen zu können.“ Der Generalbevollmächtigte der Hypothekenbank Essen AG, Eigentümerin des KölnTurms, fügt hinzu: „Köln muss weg von den Billigmieten bei den Büroimmobilien.“ Ansonsten könne die Stadt im internationalen Wettbewerb nicht mithalten. (Zitate entnommen aus: Kölner Stadtanzeiger vom 30.05.2001.)
https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/27525/die-marginalisierung-staedtischer-quartiere-in-deutschland-als-theoretische-und-praktische-herausforderung/

Der KölnTurm im Mediaparkt war bei seiner Einweihung 2001 das zweithöchste Bürogebäude in NRW. https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6lnturm

Die neugewählte Oberbürgermeisterin Henriette Reker erklärte im Januar 2016 auf dem Neujahrsempfang der Deutschen Bank: „Ich möchte den Wirtschaftsstandort Köln weiter ausbauen und Köln als Medien-, Hochschul- und Messestadt auch international auf einem Spitzenplatz wissen. Es gibt keine eindrucksvollere Sozialpolitik als die Stärkung des Wirtschaftsstandortes.“ https://www.stadt-koeln.de/mediaasset/content/pdf-ob/reden/20160114_neujahrsempfang_deutsche_bank.pdf  

In den Worten von Caritas-Vorstand Peter Krücker: die Prioritäten der Politik liegen nicht bei der Armutsvermeidung.
https://www.rundschau-online.de/politik/scharfe-kritik-des-europarats-was-muss-deutschland-gegen-armut-tun-herr-kruecker-761193

Folglich sind von den Tischen der Reichen nicht genügend Brosamen unten angekommen.

Ein Viertel der Kölnerinnen und Kölner ist arm und wird verschämt „armutsgefährdet“ genannt.
https://www.stadt-koeln.de/politik-und-verwaltung/presse/mitteilungen/26497/index.html

Die Hälfte der Einwohner Kölns hat Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein, aber jährlich fallen mehr Sozialwohnungen aus der Bindung, als neue gebaut werden. In Köln waren mal 20% aller Wohnungen gemeinnützig, heute sind es weniger als 5%.
In Köln fehlen über 17.000 Wohnungen.
https://wik.koeln/2022/09/15/wohnungspreise-in-koeln-das-problem-ist-das-zu-geringe-angebot/

Über 12.000 Menschen leben in Köln ohne Wohnung.
https://www.statistik.lwl.org/de/zahlen/wohnungslosigkeit/

2019 hat der Rat ein 3. Frauenhaus beschlossen. Es ist immer noch nicht da. Jährlich müssen 600 Anfragen ohne Aufnahme bleiben.
https://www.ksta.de/koeln/koelner-innenstadt/altstadt-sued/koeln-buendnis-fordert-tempo-fuer-drittes-frauenhaus-577327

Die Zahl der Drogentoten ist gestiegen
https://www.ksta.de/koeln/koeln-zahl-der-drogentoten-steigt-drastisch-804996

Soll angesichts dieser Entwicklung weiter blind mit anderen Städten konkurriert werden?

7. Juli 2024
Klaus Jünschke

Isolationshaft ist Folter

Isolationshaft ist Folter

Für Daniela Klette und alle Gefangenen in Einzelhaft

Unter der Überschrift „Rentner Armee Fraktion“ war auf Spiegel-online zu lesen: “Ein Trio holt die bleiernen Jahre der RAF zurück in die Gegenwart“.  Als wären es nicht Polizei, Medien und Politik gewesen, die mit ihren Reaktionen auf die Festnahme von Daniela Klette die Hysterie der 1970er Jahre wiederaufleben ließen. Der kritische Kriminologe Sebastian Scheerer hat 1978 den Begriff des politisch-publizistischen Verstärkerkreislaufs eingeführt, der noch heute geeignet ist, zu verstehen, was in der RAF-Debatte vor sich geht, wie sich Polizei, Medien und Politik im Tanz um das Law-and-Order-Kalb gegenseitig heiß machen. .

Bisher ist mir kein Text bekannt geworden, in dem Journalistinnen in dieser Geschichte den Blick auf sich selbst richten, also selbstreflexiv werden. Die Medien waren und sind nicht nur Echo-Kammer. Was machten die Journalistinnen eigentlich, die über die RAF schrieben und berichteten, wessen Interessen verfolgten sie, mit welchen Konsequenzen und mit welchem Ziel gingen sie ihrer Arbeit nach, dass heute immer noch behauptet werden kann, Isolationshaft ist eine Propagandamärchen der RAF?

Angesichts der Haftbedingungen von Daniela Klette ist es angebracht an die Corona-Jahre zu erinnern und an das was damals in allen Medien zu sozialer Isolation, den Kontaktbeschränkungen  und ihren Folgen zu vernehmen war – in leichter Sprache, in schwerer Sprache, schriftlich und mündlich, aber ohne jeden Bezug zur Geschichte der RAF oder auch nur zum Alltag in den Zellengefängnissen. .

Mit der Covid-19-Pandemie begann Anfang 2020 eine Zeit umfangreicher Kontaktbeschränkungen und Kontaktverbote. Von Anfang an wurde von den maßgeblichen Institutionen und ihren Repräsentantinnen, aber auch in einer Vielzahl von Medien immer wieder vermittelt: Wir wissen, dass mit den Corona-Maßnahmen die Gefahr sozialer Isolation einhergeht und dass diese Wohlbefinden und Gesundheit beeinträchtigen kann. Und wir wissen, dass bestimmte Gruppen der Bevölkerung davon besonders stark betroffen sind.

Es gab und gibt also durchaus Bekundungen der Solidarität mit den Menschen, für die soziale Isolation oder man kann fast sagen: eine weitere soziale Isolation besonders schmerzhaft sein musste. Dies gesagt, fällt aber auch auf: In Bezug auf Gefängnisse und ihre Gefangenen waren diese Bekundungen extrem selten. Dabei ist die Isolation für die Gefangenen bereits unter sogenannten Normalbedingungen eine psychische Belastung.

Zweifelsfrei zählen daher Gefangene in Bezug auf ihre psychische Gesundheit zu den besonders gefährdeten Gruppen. Der Anteil psychischer Erkrankungen in der deutschen Gesamtbevölkerung liegt bei 27 Prozent. Studien mit unterschiedlichem Forschungsdesign kommen in Bezug auf Strafgefangene auf einen Anteil von 40 bis 70 Prozent mit psychischen Erkrankungen und Auffälligkeiten. Es liegt also nahe, dass sich die jüngsten Kontaktbeschränkungen auf Gefangene besonders negativ ausgewirkt haben, da sie bereits vorhandene Mängel weiter verstärkten.

Den Machern des Strafvollzugsgesetzes war das bewusst. Daher wurde im § 3 zur „Gestaltung des Vollzuges“ festgehalten: „(1) Das Leben im Vollzug soll den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden. (2) Schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges ist entgegenzuwirken. (3) Der Vollzug ist darauf auszurichten, dass er dem Gefangenen hilft, sich in das Leben in Freiheit einzugliedern.“

Der Haptikforscher Prof. Dr. Martin Grundwald erklärte zum Mangel an Berührungen: „Sicher ist, dass soziale Vereinsamung und fehlender zwischenmenschlicher Körperkontakt über einen längeren Zeitraum auf der psychischen und körperlichen Ebene zu relevanten Erkrankungen führen können.“ Und er ergänzt: „Insofern ist die körperlichen Zurückhaltung aktuell gegenüber allem und jedem eine erhebliche Stresssituation, die nicht jeder gut verkraftet.“
(https://www.uniklinikum-leipzig.de/presse/Seiten/Pressemitteilung_6986.aspx)

Ein weiterer Punkt, wusste das ZDF, sind Gespräche, die gerade in Krisen und beim Umgang mit Einsamkeit, Depression und Angstzuständen besonders wichtig sind. https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronavirus-depression-einsamkeit-100.html

Angesichts der offenkundigen Schädigung der psychischen Gesundheit durch soziale Isolation fordert Prof. Dr. med. Steffi Riedel-Heller, Direktorin des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP) der Universität Leipzig, eine bessere Aufklärung über die Folgen der Isolation, entsprechende präventive Maßnahmen sowie Therapieangebote – auch unter Einbeziehung der Telemedizin.
( https://www.mdr.de/wissen/psychische-folgen-corona-kontaktbeschraenkung-social-distancing-100.html )

Besonders deutlich wird schließlich Prof. Dr. James Coan, Direktor des Virginia Affective Neuroscience Laboratory:„Wer einsam ist, wird öfter krank. Wunden heilen schlechter, das Immunsystem ist schwächer.“ Man sterbe früher, weil das Risiko für Herz-Kreislauf-Störungen, Diabetes und Depressionen steige, man werde eher dement: „Soziale Isolation tötet, das ist eine Tatsache.“ (Der Spiegel, Nr. 21/16.5.2020, S.116)

„Soziale Isolation tötet“ stand im Spiegel und niemand in den Medien fiel dazu die Geschichte der RAF und die andauernde Auseinandersetzung um Isolationsfolter ein.

Robi Friedman beschäftigt sich schon lange mit der Frage, wie Krieg eine Gesellschaft verändert. Von Antje Lang-Lendorff wurder er für die taz zu seinem Buch „Soldatenmatrix“ interviewt:

„Eine Matrix ist eigentlich eine Kultur. Der Begriff beschreibt die Kultur der Beziehungen, die Kultur der Kommunikation und ihren Sinn. Die Geschichte, die Erinnerungen sind auch Teil der Matrix. Sie prägt die Gespräche, aber auch die Berichterstattung in den Medien und das Internet. Wenn es Krieg gibt, dann verändert sich die Matrix. Wie auf Knopfdruck werden alle zu Soldaten, die gesamte Bevölkerung wird eingezogen. Natürlich müssen nicht alle kämpfen, aber jeder hat eine Rolle in diesem Krieg. Deshalb habe ich mein Konzept ‚Soldatenmatrix‘ genannt.“
https://taz.de/Israelischer-Psychologe-ueber-Krieg/!6000125&s=Soldatenmatrix/

Für mich eine einleuchtende Erklärung dafür, dass auch 2011 keine Stimme in den bundesdeutschen Medien zu vernehmen war, als Vereinte Nationen und das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter die Einzelhaft skandalisierten und ihre Ächtung forderten.

Im Jahr 2011 veröffentlichte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Folter, Juan Ernesto Méndez, einen Bericht, in dem er zu dem Schluss kam, dass mehr als 15 Tage Einzelhaft als Verstoß gegen die UN-Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe gelten sollten.

Es gibt zwar keine universelle Definition für Einzelhaft, da der Grad der sozialen Isolation je nach Praxis variiert. Aber Herr Méndez definierte sie als jedes Regime, bei dem Insassinnen mindestens 22 Stunden am Tag von anderen Gefangenen, mit Ausnahme von Wärterinnen, isoliert sind. https://news.un.org/en/story/2011/10/392012-solitary-confinement-should-be-banned-most-cases-un-expert-says#.UdsQoT5gaBg und https://www.un.org/press/en/2011/gashc4014.doc.htm

Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) ist der Meinung, dass die maximale Dauer von Einzelhaft 14 Tage nicht übersteigen und vorzugsweise darunter liegen sollte. Im 21. Jahresbericht des CPT, der auch 2011 veröffentlicht wurde, werden gleichfalls unter dem Begriff „Einzelhaft“ alle Fälle verstanden, bei denen die Unterbringung von Gefangenen getrennt von anderen Inhaftierten angeordnet wird.
https://rm.coe.int/16806fa178

Als nach 2002 immer wieder Fotos von den Gefangenen in Guantanomo in den Medien zu sehen waren, auf denen die Gefangenen die Augen verbunden waren, die Ohren mit Kopfhörer verschlossen, Mund und Nase bedeckt, die gefesselten Hände in Handschuhen wurde die bundesdeutsche Öffentlichkeit nicht über sensorische Deprivation aufgeklärt. Dabei war diese Foltermethode durch die Veröffentlichung des Kursbuch 32 seit 1973 in der Bundesrepublik bekannt. Was in normalen Zellengefängnissen mit strenger Einzelhaft in Monaten und Jahren bewirkt wird, die Leidensfähigkeit der Gefangenen zu überschreiten, haben die USA auf Guantonamo mit ihren Methoden in Stunden und Tagen hergestellt. Allein  2003 versuchten 120 Gefangene in Guiantanom0 sich das Leben zu nehmen. https://de.wikipedia.org/wiki/Gefangenenlager_der_Guantanamo_Bay_Naval_Base#Suizide_und_Suizidversuche_von_Gefangenen.

Auf der Informationsveranstaltung des Kölner „Komitee zur Aufklärung über Gefängnisse / Initiative gegen Folter“ am 18.2.1974 im Wallraf-Richartz-Museum erklärt die Theologin Dorothee Sölle, warum sie lernte Isolationshaft als Folter zu bezeichnen:

 „Ich möchte Ihnen kurz meinen eigenen Lernprozess in dieser Sache darstellen. Ich habe mich zunächst gegen den Ausdruck Folter hier in der Bundesrepublik gewehrt und zwar, weil ich eine Reihe von sehr gründlichen Studien, Reflexionen und Berichten habe, über das, was an Folter z.B. in Süd-Vietnam oder Brasilien passiert. Und so meinte ich zunächst, man sollte doch diesen Ausdruck Folter beschränken auf die Zerstörung  körperlicher Unversehrtheit durch direkten physischen Eingriff. Ich muss sagen, die Beschäftigung mit den Berichten, mit dem, was im Kursbuch steht, das hat mich mehr und mehr davon abgebracht, das Wort Folter in diesem älteren Sinne zu nehmen. Es ist  meiner Ansicht nach also notwendig, eine Art Revision des Begriffes Folter vorzunehmen. Auch die Anwendung seelischer Zerstörungsmechanismen, mit dem Ziel nun nicht mehr des Geständnisses, ist Folter. Die neue Definition müsste heißen: Folter ist die Anwendung von Isolation zum Zweck der psychisch – physischen  Zerstörung der Persönlichkeit des Häftlings. Auch das wird man als Folter ansehen müssen.“  (Christiane Ensslin: Isolationshaft ist Folter. In: Reiner Schmidt, Anne Schulz und Pui von Schwind: Die Stadt, das Land, die Welt verändern. Köln 2014, S.401)

Köln, 8. April 2024
Klaus Jünschke