Wann übernimmt die Bundesregierung die Verantwortung für die Drogentoten?

21. Juli –  Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher

Der Gedenktag findet am 21. Juli statt, weil an diesem Tag im Jahr 1994 Ingo Marten verstarb. Wie viele tausend andere Drogengebraucher vor und nach ihm war er Opfer einer repressiven Drogenpolitik. Ingos Mutter, Karin Stumpf, gelang es mit beispiellosem persönlichen Einsatz und mit Unterstützung der nordrheinwestfälischen Stadt Gladbeck, die damals erste Gedenkstätte für verstorbene Drogenabhängige in Deutschland einzurichten
https://www.vision-ev.de/projekte/gedenktag/

Drogentote in Köln

2000: 58

2001: 62

2002: 54

2003: 44

2004: 34

2005: 57

2006: 69

2007: 58

2008: 54

2009: 41

2010: 43

2011: 34

2012: 29

2013: 42

2014: 37

2015: 42

2016: 41

2017: 50

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4976/umfrage/drogentote-entwicklung-in-deutschen-grossstaedten/

2018: 77

2019:50

Zusammen von 2000 – 2019: 975  Drogentote in Köln

Ohne Bezug zum anstehenden Gedenktag und ohne die Kölner Drogentoten zu erwähnen hat der Kölner „express“ unter dem Titel „Drogenhölle Neumarkt“ Anfang des Monats eine vierteilige Serie veröffentlicht, in der mit drastischen Beispielen das Elend der Süchtigen und die Probleme der Anwohner und Geschäftsleute geschildert wird. Den schrillen Law-and-Order-Texten, fehlte aber jeder Bezug zur repressiven Drogenpolitik der Bundesregierung. Auch zum Stand der Forschung wurde den Leserinnen und Leser nichts geboten als einen weiteren Anlass zu mehr Wut auf die notorisch hilflos-ignorante Stadtregierung und die Gesundheitsverwaltung, die es nicht geregelt bekommt. 

Wer sich den „express“ antun will:
Folge 1: https://www.express.de/koeln/report-nach-poldi-kritik–drogenhoelle-neumarkt–so-leiden-die-anwohner-im-herzen-koelns-36975624

Folge 2: https://www.express.de/koeln/drogenhoelle-neumarkt–teil-2-mit-neuer-app-wehren-sich-koelner-gegen-junkies-und-gewalt-36984094

Folge 3: https://www.express.de/koeln/drogenhoelle-neumarkt–teil-3-hier-warten-koelner-junkies-auf-den-bus—zum-fixen-36996218

Folge 4: https://www.express.de/koeln/drogenhoelle-neumarkt–teil-4-krisengipfel-bei-koelns-stadtspitze—frust-bei-anwohnern-37022024


Unvergleichlich besser, hat die Kölner StadtRevue vor zwei Jahren das Thema behandelt.
Es wird aus der Perspektive der Drogengebraucher berichtet und sachlich informiert:
Schätzungsweise 10.000 Menschen sind in Köln abhängig von illegalen Drogen. Im Gegensatz zu anderen Städten ist Heroin hier die Droge Nummer eins, gefolgt von Kokain und »Benzos«, also Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Mehr als 2000 Kölner sind in Substitution.
https://www.stadtrevue.de/archiv/artikelarchiv/13185-die-rauschzone-teil-1/


Spätestens seit 1992 muss davon gesprochen werden, dass Politiker und Gesundheitsbürokraten für den Tod von Süchtigen verantwortlich sind. Der Spiegel schrieb am 17.08.1992: „Die deutsche Drogenpolitik steht vor der Wende. Staatsanwälte und Polizeichefs halten die Jagd auf Dealer mittlerweile für aussichtslos. Um der Rauschgiftmafia das Geschäft zu verderben und das Fixer-Elend zu lindern, gibt es nach Ansicht von SPD-Politikern und Drogenexperten nur noch ein Rezept: Heroin vom Staat.“
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13689817.html

Weil das Bundesgesundheitsamt das Projekt der Stadt Frankfurt, Schwerstabhängigen Heroin durch Ärzte verschreiben zu lassen, abgelehnt hat, erklärte 1994 der Stuttgarter Polizeipräsidenten Volker Haas im Spiegel:
„Da kann ich nur sagen, allmählich werden die Bürokraten, die mögliche Entscheidungen zur Milderung dieses furchtbaren Problems und zur Reduzierung der unerträglichen Beschaffungskriminalität verhindern, selber zum Problem. Die tun so, als ob die Sucht zur Disposition stünde. Gespritzt wird aber auf jeden Fall, die Sucht existiert so oder so, unabhängig davon, was das Bundesgesundheitsamt entscheidet. Es gibt keine drogenfreie Gesellschaft, also kann die Polizei auch keine drogenfreie Gesellschaft durchsetzen.“
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13683626.html

Der Spiegel hatte am 27.01.1997 auf seinem Titel „Heroin vom Staat“. In der Titelgeschichte wurde einmal mehr bekräftigt, dass die überwältigende Mehrheit der Drogentoten auf die unkalkulierbaren Risiken des Schwarzmarktes und ihrer Verzweiflung zurückzuführen ist.
Der damalige Kölner Polizeipräsident Roters beklagte die Rolle der Polizei, die ihr von der Drogenpolitik zugewiesen wird: „Die Gruppe der Schwerstabhängigen, teilweise psychisch labil, HIVinfiziert, von einer Ecke zur anderen zu vertreiben, ohne Lösungsmöglichkeiten, weil sie weder für Methadon-Programme noch für Langzeittherapien zu gewinnen sind, führt zu großen Gewissenskonflikten bei unseren Kollegen auf der Straße.“
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8651170.html

Die Polizeipräsidenten haben natürlich längst gewusst, dass die Abgabe von Heroin durch den Staat nicht nur den Drogenhandel schwächen, sondern auch zu einer drastischen Verringerung der Beschaffungsdelikte führen würde: „Nachdem der Gießener Kriminologieprofessor Arthur Kreuzer hundert Junkies befragen ließ, rechnete er hoch, daß 45 Prozent der Autoaufbrüche, 37 Prozent der Wohnungseinbrüche und 20 Prozent der Raubüberfälle auf das Konto von Süchtigen gehen. In den Städten ergab sich die Faustregel, daß den Drogen ein Drittel der Eigentumskriminalität zuzurechnen ist.“
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8651170.html

1997 hat sich nicht nur die Mehrheit der Polizeipräsidenten in Nordrhein-Westfalen für die Entkriminalisierung von Heroin ausgesprochen, auch der Kölner Gefängnisleiter Jörn Foegen erklärte öffentlich: „Entscheidend ist, daß wir sagen, ein Drogenabhängiger ist krank. Dann frag ich mich, was soll der denn bei mir? Bin ich leitender Arzt oder bin ich Knastdirektor? Wenn die krank sind, dann muß ich ihnen das Medikament geben. Das ist im Moment die Droge. Ein Schweizer Versuch hat ja sogar gezeigt, daß es besser ist, gleich anständiges Heroin zu geben anstatt Methadon. Gäbe es das notwendige Suchtmittel unter ärztlicher Begleitung in anderer Form, dann hätten wir beides, den vernünftigen Umgang mit der Droge und das Infektionsproblem gelöst.“ https://www.gruenekoeln.de/pages/rr/105/rr10507.htm

Von 2002 bis 2008 kam es in Deutschland in sieben Städten zu einem Modellprojekt. Auch in Köln wurden an die 50 Abhängige mit Heroin behandelt:
„Im Rahmen des bundesdeutschen Modellprojekts zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger erhalten Drogenabhängige, bei denen bisherige Drogentherapien nicht erfolgreich waren oder bei denen die Methadonsubstitution nicht befriedigend verläuft, versuchsweise injizierbares Heroin als Medikament; eine Kontrollgruppe bekommt parallel die Ersatzdroge Methadon. Beide Gruppen werden regelmäßig medizinisch betreut und erhalten eine psychosoziale Begleittherapie.“
„Der Gesundheitszustand der Patienten hat sich unter der Diamorphinbehandlung außerordentlich verbessert.“
Am 28.05.2009 wird Diamorphin als Medikament zugelassen
„Mit breiter Mehrheit hat der Deutsche Bundestag heute ein Gesetz beschlossen, das die rechtlichen Voraussetzungen für die Überführung der diamorphingestützten Behandlung in die Regelversorgung schafft. Das Gesetz regelt u.a., dass Diamorphin (pharmazeutisch hergestelltes Heroin) – unter engen Voraussetzungen – als Betäubungsmittel im Rahmen der Substitutionsbehandlung von Schwerstopiatabhängigen verschreibungsfähig wird.“
http://www.heroinstudie.de/

2020: Köln hat nicht einmal genug Drogenkonsumräume

Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes erklärte auf dem Gedenktag 2019 auf dem Rudolfplatz, dass es überfällig ist, am Neumarkt, in Mülheim und in Kalk Drogenkonsumräume einzurichten. Chorweiler und den Kölnberg hat sie vergessen zu erwähnen. Als Übergangsbehelf kündigte sie den Einsatz von mobilen Konsumräumen zum Jahresende an.
 https://www.youtube.com/watch?v=bGPvK_yxAjg&list=PLRJDuqhiox-M44VHqS-xoK4UJ0S77E04L&index=5&t=0s

Bettina Janacek am 20.05.2017 im Stadt-Anzeiger in ihrem Kommentar zur Diskussion um den geplanten Drogenkonsumraum am Neumarkt „Ein kurzer Blick ins Land macht deutlich: Köln ist, was die Versorgung mit Drogenkonsumräumen angeht, Schlusslicht. Düsseldorf hat zehn, Wuppertal elf und Dortmund gar 18 – alles Städte mit niedrigerer Bevölkerungszahl.“

Wieso stellt sich überhaupt 12 Jahre nach dem erfolgreichen Heroinprojekt in Köln immer noch die Frage nach Drogenkonsumräumen?

Wer ist dafür verantwortlich, dass der dumme Kleinkrieg zwischen Polizei, Süchtigen und Kleindealern andauert?

Portugal – eine andere Antwort
João Goulão, Leiter des portugiesischen Instituts für Drogen und Drogenabhängigkeit, hat Anfang des Jahrtausends in seinem Land die Entkriminalisierung des Drogenkonsums erstritten. Was passiert, wenn in einem Land alle Drogen legalisiert werden, kann seit 20 Jahren in Portugal studiert werden.
http://derstandard.at/2000042539163/Was-passiert-wenn-ein-Land-alle-Drogen-legalisiert

20.Juli 2020
Klaus Jünschke

PS
Zur weiteren Information

Akzept e.V. Bundesverband für akzeptierende Drogenarbeit und humane Drogenpolitik
https://www.akzept.eu/

JES – Bundesverband e.V. Leben mit Drogen
https://www.jes-bundesverband.de/  

Vision e.V. Verein für innovative Drogenselbsthilfe
https://www.vision-ev.de/

Am 8. November 2019 fand an der Uni Frankfurt der Kongress „Vom Schaden der Prohibition“ statt.
Veranstalter war der Schildower Kreis, ein Expertennetzwerk gegen das Drogenverbot.
http://schildower-kreis.de/
Die Vorträge wurden aufgezeichnet:

Teil 1
Prof. Dr. Cornelius Nestler: Bürgerautonomie, Drogenstrafrecht und freiheitliche Gesellschaft
Prof. Dr. Cornelius Nestler: Verdeckte Ermittler
Prof. Dr. Sebastiane Scheerer: Die Geschichte der Drogen-Prohibition
https://www.youtube.com/watch?v=2WWFOOFPQe8

Teil 2
Hubert Wimber (Polizeipräsident Münster a.D.) und Dirk Peglow (Stellvertr. Vorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter) diskutieren über die Entkriminalisierung des Drogengebrauchs
Prof. Justus Haucap: Ökonomische Analyse der Kosten der Prohibition
https://www.youtube.com/watch?v=qZbuGcTcP7s

Teil 3
Prof. Dr. Heino Stöver: Der Bedarf an Regulierungen des Drogengebrauchs und Kritik an der parteipolitischen Besetzung der Stelle der Drogenbeauftragten statt nach Expertise
Alexander Bücheli (Bar& Club Komission Zürich): Partydrogenkonsum und Regulierungsmodell für Ecstasy
Georg Würth vom Deutschen Hanfverband: Regulierungsmodell für Cannabis
https://www.youtube.com/watch?v=Sd938lWgrxM

Das letzte Wort soll Heino Stöver mit seinem Interview aus der Welt vom 4.Juli 2019 haben, weil er  ausspricht, dass das Amt der mehr oder weniger inkompetenten Drogenbeauftragten der Bundesregierung ersetzt werden muss durch eine Betäubungsmittelkommission, bestehend aus Expertinnen und Experten.
https://www.welt.de/politik/deutschland/article196361591/Alternativer-Drogenbericht-Suchtforscher-kritisiert-Drogenpolitik.html?wtmc=socialmedia.facebook.shared.web&fbclid=IwAR2fWWFhH_QArkoZhIa3CXhGkUOYgpnRAnoRqRtZ2jjAMqqPDP3juwFirhU

3 Kommentare zu „Wann übernimmt die Bundesregierung die Verantwortung für die Drogentoten?“

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