In einem Interview mit dem Deutschlandfunk, das mit „Man hätte stärker an die Ärmsten der Armen denken müssen“ überschrieben war, erklärte Christoph Butterwegge : „Familien im Hartz IV-Bezug, deren Kinder während des Lockdowns nicht in der Kita oder in der Schule waren, sondern zu Hause, mussten verpflegt werden. Was in den Einrichtungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket kostenfrei ist. Jetzt waren die Kinder zu Hause, und mussten bekocht werden. Die zusätzlichen Kosten hat der Staat nicht getragen.“ https://www.deutschlandfunk.de/soziale-ungleichheit-durch-corona-man-haette-staerker-an.694.de.html?dram:article_id=484795
Christoph Butterwegge hatte daher gefordert, dass die Hartz-IV beziehenden Familien monatlich wenigstens 100 Euro mehr vom zuständigen Bundesfinanzminister Scholz (SPD) bekommen sollten. Ulrich Schneider, der Geschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV) forderte 200 Euro zusätzlich. Jetzt zitiert er völlig entgeistert die Artikel 30 und 31 der Europäischen Sozialcharta auf seinem Facebook Account, die Bundesarbeitsminister Heil (SPD) nicht unterzeichnen will: „Was um Himmels Willen kann einen deutschen Sozialminister dazu bewegen, sich gegen die Ratifizierung sozialer Rechte auf Wohnen und auf Schutz gegen Armut in einer EU-Charta zu stellen? Ich verstehe es wirklich nicht mehr.“
Was ist daran misszuverstehen? Die Sozialdemokratie hat mit der Hartz-Kommission die Verarmung der Arbeiterklasse durchgesetzt, um der deutschen Wirtschaft in der globalen Standortkonkurrenz Vorteile zu verschaffen. Kanzler Schröder in seiner Rede auf dem World Economic Forum in Davos: „Wir müssen und wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.“
http://gewerkschaft-von-unten.de/Rede_Davos.pdf
Die Quittung war die zunehmende politische Bedeutungslosigkeit der SPD. Die meisten Armen haben den Willen verloren wählen zu gehen.
Frau Reker, die nun wirklich nicht weiß, wie die Armut in die Welt gekommen ist, wurde von der Kölnischen Rundschau gestern gefragt ob ihr die geringe Wahlbeteiligung Sorgen macht. Sie antwortet: „Ja, das mach mir große Sorgen.“ Um dann jede Verantwortung von sich zu weisen: „In Belarus sterben die Menschen dafür, freie Wahlen zu haben. Und hier gehen die Leute nicht wählen.“
Am selben Tag hat auch der Stadt-Anzeiger ein Interview mit Frau Reker gebracht und von ihr eine Stellungnahme zur Meinung von Frau Grünewald, der Präsidentin der Industrie- und Handelskammer, erbeten, die die „Wirtschaftsfähigkeit“ der Grünen anzweifelt und es für nötig hält zu erklären „dass Wirtschaft die Grundlage unseres Wohlstands ist“. Immerhin hätte Frau Reker als Oberbürgermeisterin aller Kölnerinnen und Kölner angesichts der zunehmenden sozialen Ungleichheit darauf hinweisen können, dass selbst das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln 26% Arme zählt, für die Wohlstand ein Fremdwort ist. Aber die Armen kommen in den Interviews von Frau Reker nicht vor. Ihre Antwort: „Als ich noch Sozialdezernentin war, habe ich schon immer gesagt, dass das, was wir an sozialer Unterstützung ausgeben, erst einmal erwirtschaftet werden muss. Ich glaube, das muss Frau Grünewald niemanden erklären. Das weiß jeder – auch bei den Grünen.“
Aus der Immobilienwirtschaft sind keine Klagen über Frau Rekers Arbeit zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Köln bekannt geworden. Die Zufriedenheit aus diesen Reihen zeigte sich in der öffentlichen Unterstützung für ihren Wahlkampf.
Über den Neujahrsempfang der deutschen Bank berichtet die Kölnische Rundschau am 14.1.2016: „Die mit Beifall begrüßte Oberbürgermeisterin Henriette Reker forderte mehr Personal für Polizei und Justiz. Zudem lud sie die Anwesenden ein, mit ihr den Wirtschaftsstandort Köln zu stärken, denn dies sei die „eindrucksvollste Sozialpolitik, die es gibt“.
Die Armen kriegen, was von oben zugelassen wird und wenn diejenigen, die sich nicht an die Ordnung halten, Probleme machen, die von Sozialarbeitern nicht gelöst werden können, wird die Polizei aktiv.
Warum auf die zunehmende Armut mit dem Ruf nach immer mehr Polizei reagiert wird, statt mit der Bekämpfung der Armut, bleibt öffentlich undiskutiert.
Dazu gibt es ein Buch, das die weitestmögliche Verbreitung verdient:
Renate Dillmann / Arian Schiffer-Nasserie: Der soziale Staat. Über nützliche Armut und ihre Verwaltung.“ VSA Verlag, Hamburg 2018
Sie reden tacheles „vom sozialen Staat, der in den letzten 15 Jahren große Teile seiner lohnabhängigen Bevölkerung im Interesse seiner Wirtschaft und seiner globalen Macht verarmt und verunsichert hat.“
Sie stellen die richtigen Fragen, die kein Journalist einer Frau Reker stellt:
„Wieso gehört die Versorgung der Menschen und die Rücksichtnahme auf ihre sozialen Belange nicht zum Auftrag der Ökonomie selbst?
Warum ist ‚das Soziale‘ getrennt von ‚der Wirtschaft‘ überhaupt eine gesonderte Staatsaufgabe?
Wieso gibt es ‚soziale Ungleichheit‘, die ‚ausgeglichen‘ werden muss, wieso fehlt es an Möglichkeiten zur ‚Teilhabe‘ und was gefährdet eigentlich so systematisch den Allseits beschworenen sozialen Zusammenhalt?
Weshalb werden Armut, Not und Unsicherheit eigentlich nie überwunden, wenn doch ein mächtiger Sozialstaat ihnen seit 150 Jahren den Kampf ansagt?“
Am Montag, den 28.September 2020 veröffentlichte die Kölnische Rundschau unter dem Titel „An die Arbeit“ die „wichtigsten Themen bis 2025“:
1. Ost-West-Achse
2. Historische Mitte
3. Neuer Stadtteil Kreuzfeld
4. Neuer Klinikverbund
5. Corona und die Folgen für die Wirtschaft
Im letzten Satz kommen auch die Armen vor. Sie müssen sich auf einiges gefasst machen: „Der Rat wird unbequeme Entscheidungen treffen müssen, was Köln sich leisten kann.“
Ganz anderes ist aus Wuppertal zu vernehmen. Dort wurde mit Uwe Schneidewind ein Grüner zum Oberbürgermeister gewählt, der nach seiner Wahl „Kampf gegen Armut und Rechtsradikale“ verspricht.
„Außerdem verspricht Schneidewind, den Kampf gegen Armut fortzuführen. Der war ein Kernthema des bisherigen OB Andreas Mucke. Bei der Stichwahl gestern hatte Schneidewind in den strukturschwachen Stadtteilen im Wuppertaler Osten schlecht abgeschnitten. Er werde sich aber gerade um diesen Bereich intensiv kümmern, sagte er nach seiner Wahl im Radio-Wuppertal-Interview.“
https://www.radiowuppertal.de/…/schneidewind-verspricht…
1.Oktober 2020
Klaus Jünschke