Zum wachsenden Strafbedürfnis

Fritz Sack hat vor 12 Jahren schon über den weltweiten „punitive Turn“ geschrieben und gefragt, ob die Bundesrepublik dagegen gefeit ist.

In der aktuellen ZEIT schreibt der Berliner Rechtsanwalt Stefan Conen über das zunehmende Strafbedürfnis unter Juristinnen, Politikerinnen und in den Medien. Er zitiert aus den Umfragen des Erlanger Strafrechtlers Franz Streng unter seinen Erstsemestern aus den Jahren 1989 – 2012. Danach haben zuletzt ein Drittel der Studienanfänger die Todesstrafe befürwortet und fast jeder Zweite wollte Folter als Befragungsmittel zulassen.

Er erinnert daran, dass in den letzten Legislaturperioden die Beschuldigten- und Angeklagtenrechte zurückgeschraubt wurden: „teilweise hinter den vordemokratischen Stand des Kaiserreichs“.

Er kritisiert, dass die Mindeststrafrahmen bei Missbrauchsdelikten angehoben wurde, „obwohl für die öffentlich diskutierten Fälle der untere Strafrahmen nie in Rede stand.“

In der Berichterstattung über Kriminalität sieht er, dass  „seit der Jahrtausendwende die Unsitte einer vorverurteilenden, aus den Ermittlungsakten zitierenden Vorberichterstattung“ um sich greife, „die letztlich Ausdruck einer Missachtung des Gerichts und seiner Pflicht sei, ein Urteil ausschließlich aus dem Ergebnis der Hauptverhandlung zu schöpfen“.

„Es gibt Forschungen dazu, wie sehr sich Richter von der Medienberichterstattung über ihre Prozesse beeinflussen lassen (verkürztes Ergebnis: zu sehr!).“

„Eine tragfähig Brücke über den real existierenden Graben  zwischen Medien, die Kriminalfälle emotional aufladen, und der Justiz, die diese zu rationalisieren versucht, ist nicht in Sicht.“
https://www.zeit.de/2022/15/strafrecht-justiz-rechtsstaat-strafverteidigung

Die wachsende soziale Ungleichheit der letzten Jahrzehnte, und die damit verbundene Verunsicherung vieler Menschen, kommt bei Stefan Conen nicht vor.

Im 3. Sicherheitsbericht steht immerhin:
„Die Ergebnisse des jüngsten Standard-Eurobarometers zeigen, dass die Sorge vor Kriminalität in Deutschland auf den hinteren Rängen rangiert. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland (11 %) allerdings über dem Durchschnitt der 27 Mitgliedstaaten (8 %).376 Auch EU-weit beschäftigen die Bürgerinnen und Bürger seit 2020 vor allem wirtschaftliche Sorgen.“
https://www.bundesjustizamt.de/DE/SharedDocs/Publikationen/BfJ/3_Periodischer_Bericht.pdf;jsessionid=E824B472148D14E51499E423C27A6C20.2_cid503?__blob=publicationFile&v=4

Womit wir wieder bei Karl Marx wären, der nicht den „Crime“ sondern den „Context“ im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit sehen möchte. Man müsse »nicht das Verbrechen am einzelnen strafen, sondern die antisozialen Geburtsstätten des Verbrechens zerstören und jedem den sozialen Raum für seine wesentliche Lebensäußerung geben. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muss man die Umstände menschlich bilden.« (Friedrich Engels und Karl Marx: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Frankfurt a.M. 1845, S.207)

12. April 2022
Klaus Jünschke

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